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Von Selektion zu Inklusion – die Schule auf dem Weg in die Zukunft!

„Die Schule soll jedem Heranwachsenden dazu verhelfen, das für sie oder ihn mögliche Maximum an Kompetenzentwicklung zu erreichen.“ Dazu muss gesagt werden, dass natürlich dieses Maximum individuell zu sehen und nicht bei allen auf demselben Niveau ist.

 

Die heutige schulische Bildung hat eine Selektionsfunktion, meistens wird dieser Begriff aber vermieden und mit Begriffen wie „Auslese“ oder „Allokation“ umschrieben.

Laut Definition nach Fend versteht man unter „Allokation“ die Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf künftige Berufslaufbahnen, „Selektion“ hingegen meint den Ausschluss von gewünschten Bildungslaufbahnen. Die Verteilung erfolgt hier nicht nach den Wünschen und Interessen der Lernenden, sondern nur nach deren Leistung.

Die „leistungsbasierte Selektion“ kann als pädagogische Herausforderung betrachtet werden.

Die Forderung nach gleichen Berufs- und Aufstiegschancen für gleiche schulische Leistungen steht in einem Spannungsfeld zwischen dem Charakter und den Bedingungen des pädagogischen Handelns. Einerseits sollen Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler mit Empathie und Respekt behandeln, andererseits müssen die Lernenden auf ihre konkret erbrachte Leistung reduziert werden, damit sie „fair“ auf verschiedenste Berufslaufbahnen verteilt werden können.

Zugleich stellt diese Forderung von gleichen Berufschancen für gleiche schulische Leistungen eine weitere pädagogische Problematik dar. Damit verbunden ist nämlich die schwierige Aufgabe des exakten Leistungsvergleichs und exakten Leistungsmessung. Um die Leistung wirklich genau messen zu können, muss diese dekontextualisiert, standardisiert und quantifiziert werden. Der persönliche Lernfortschritt der Schülerinnen und Schüler – welcher immer als sehr bedeutend bezeichnet wird – wird hier nicht berücksichtigt.

Auch bei einer völlig standardisierten Leistungsmessung kann das Einfließen von subjektiven Einflüssen nie zur Gänze ausgeschlossen werden.

Zudem kann eine „Auslese nach Leistung“ bzw. eine „schulische Selektion nach Leistungen“ nicht als „gerecht“ im Sinne der Bildungsgerechtigkeit definiert werden.

Lernende sind rechtlich gesehen noch keine mündigen Personen. Somit haben Schulen es mit Heranwachsenden zu tun, bei denen sich deren Autonomiefähigkeit gerade erst entwickelt. Und bei dieser Autonomieentwicklung darf der entscheidende Einfluss der Schule nicht außer Acht gelassen werden. Man meint damit die Entfaltung von neuen Fähigkeiten und Fähigkeitspotentialen. Leider wird diese Ausbildung oft unterdrückt, indem dem heranwachsenden Individuum statische Fähigkeitspotentiale und Begabungen zugeschrieben werden. Und diese Zuweisung dient wiederum als Grundlage für seinen/ihren Ausschluss von verschiedenen Schulformen und Berufslaufbahnen. Laut 

schulischer Selektion gelten Fähigkeitspotentiale als schon früh festgelegt, dies ist aber nicht vereinbar mit den sozialen Anerkennungsvoraussetzungen von Bildungsprozessen insgesamt.

Da viele Schulsysteme nach Fends Schultheorie aufgebaut sind, darf diese hier nicht fehlen. Interessant ist, dass Bildung als Funktion von Schule bei Fend gar nicht vorkommt, er definiert folgenden Funktionen des Schulsystems: kulturelle Reproduktion bzw. Enkulturation, Qualifikation, Allokation, Integration und Legitimation.

Aber keine dieser Funktionen spiegelt den eigentlichen Bildungsprozess wider, wenn man Bildung als „Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit, welche sich nicht gesellschaftlich funktionalisieren und welche sich nicht auf die Summer der Rollenzuweisungen reduzieren lässt, die die Gesellschaft an sie richtet“ sieht.  Die Schaffung von Voraussetzungen für die Persönlichkeit und die aktive Unterstützung dieser kann als übergeordnete Aufgabe der Bildungseinrichtungen betrachtet werden. Und schulische Selektion widerspricht dieser Aufgabe ganz klar (Stojanov, 2011, S. 165-174)!

 

Die gegenwärtige Schulkritik bzw. -reform möchte einen Wandel von Homogenisierung und Selektion zu individueller Förderung und Inklusion erzielen.

Kennzeichen bzw. Leitidee unseres heute noch weitverbreiteten Schulsystems ist die „Sehnsucht nach der homogenen Lerngruppe“. Die Orientierung an diesem veralteten Bild von einheitlichen Lerngruppen wird durch schulorganisatorische Maßnahmen wie Jahrgangsklassen, Rückstellungen vom Schulbesuch, frühzeitige Einordnung in Schulformen des gegliederten Schulsystems, Sitzenbleiben und Selektion in Sonderschulen deutlich.

Die Schule der Gegenwart gilt als Lektionen- und Unterrichtsschule mit folgenden Merkmalen:

  • Bildung erfolgt in homogenisierten Gruppen in einem mehrgliedrigen Schulsystem
  • der Fokus liegt auf einer Stundenabhaltung laut Lehrplan
  • das Augenmerk im Unterricht liegt auf dem Erwerb von Berechtigungen und dem Abprüfen von Leistungen
  • Schulen und Lehrpersonen sind grundsätzlich für die Erteilung von Fachunterricht zuständig
  • individuelle Förderung der Lernenden ist großteils vom persönlichen Engagement der Lehrkräfte abhängig und im System nur in wenigen Fällen vorgesehen
  • Schulen sind Selektionsagenturen

Die zuvor bereits erwähnte „Sehnsucht nach Leistungshomogenität“ oder oft auch das „Lernen im Gleichschritt“ steht im Gegensatz zu einer integrativen und individualisierten Pädagogik. Eine weitgehend selektionsfreie Schule bedarf einer Anpassung von Schule und Lehrkräften an unterschiedliche, einzigartige Schülerinnen und Schüler. Dabei ist es wichtig, dass Schulen und Lehrkräfte aktiv und produktiv mit Heterogenität umgehen – deshalb ist auch dafür zu sorgen, dass niemand zurückbleibt.

Diese „neue Schule“ kennzeichnen folgende Merkmale:

  • im Zentrum stehen die Bedürfnisse und Interessen der Lernenden – jede/r bekommt genau das, was sie/er benötigt
  • Wahrnehmung und Achtung der Schülerinnen und Schüler als ganze Person
  • Schule ist Lern- und Lebensraum zugleich
  • Heterogenität wird als Gelegenheit zum sozialen Lernen und zur Verständigung genutzt und wertgeschätzt
  • Prüfungen und Selektionsanlässe werden minimiert
  • Unterricht wird flexibler und geht auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler ein
  • Lernende haben Freiräume und arbeiten selbstständig und kooperativ an ihren Kompetenzen und erhalten Unterstützung und Begleitung seitens der Lehrkräfte

Eines aber ist klar, die Realität sieht anders aus und bedarf einer Veränderung auf allen Ebenen: auf Schulsystemebene, auf Einzelschulebene und didaktisch-methodischen Forderungen nach einer „neuen Lernkultur“. Unser derzeitiges Schulsystem gilt auf vielen Ebenen als überholt und nicht mehr zeitgemäß (Trautmann & Wischer, 2011, S. 17-19)!

Schulsysteme sind träge und setzten Neuerungen und Verbesserungen zu langsam um. Für die Etablierung einer „neuen Lernkultur“ braucht es die entsprechenden Rahmenbedingungen seitens des Gesetzgebers und der Schulbehörden. Im praktischen Schulbetrieb sind es natürlich die Lehrpersonen, die Veränderungen maßgeblich umsetzen – dazu bedarf es aber einer persönlichen Veränderungsbereitschaft und den Mut, neue Wege zu beschreiten.

      

 

Quellen:

Stojanov, K. (2011). Darf und soll die Schule selektieren? In K. Stojanov (Hrsg.), Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktion eines umkämpften Begriffs (S. 165-174). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Trautmann, M. & Wischer, B. (2011). Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung. Wiesbaden: VS verlag für Sozialwissenschaften.