Bewegung im Klassenzimmer (einige Gedanken zu Henri Meschonnic)
Henri Meschonnic war ein französischer Lyriker, Übersetzer und Sprachwissenschaftler. Aufgrund meiner theoretischen Beschäftigungen mit Sprache und Sprachkunst bin ich kürzlich auf die Werke Meschonnics aufmerksam geworden. Im deutschen Sprach- und Kulturraum sind diese noch nicht wirklich bekannt. So liegen beispielsweise keine Übersetzungen derselben vor und in der Fachliteratur finden sich nur äußerst spärliche Bezüge. Ausführliche Bearbeitungen sind mir aus dem deutschen Sprachraum nur von Hans Lösener bekannt, einem Deutsch-Didaktiker. Warum teile ich euch liebe Leser*innen das mit? Obgleich meine Lektüren noch recht oberflächlich waren und meine Auseinandersetzungen erst an ihrem Anfang stehen, kamen mir doch Gedanken, welche ich für dieses Forum als Interessant empfinden kann und ich sie somit zwischen den Dingen verorten möchte.
Meschonnic kritisiert ein Denken, welches Körper und Geist (Verstand) dichotom auffasst, als getrennte und voneinander unabhängige Ebenen. Er schreibt dieses Denken vor allem der platonischen Philosophie (teilweise generell der griechischen, was nicht wirklich haltbar ist – Epikur vertritt beispielsweise abweichende Positionen) zu und beschreibt wie sich diese Form der Selbstwahrnehmung durch die Geschichte des Okzidents bis „heute“ gehalten hat. Ein Argument gegen eine solche Position wäre, dass unser Denkapparat nicht nur isoliert in unserem Kopf sitzt. Verarbeitet werden Informationen, ein neuronales Netzwerk, sowie ein Blutkreislauf, durchziehen unseren Körper. Reize werden in chemische Information bzw. Impulse übersetzt, zum auswertenden Zentrum transportiert und stellen sich uns folglich als Wahrnehmungen vor. Dass Veränderungen unseres Hormonhaushaltes unsere Wahrnehmung beeinflussen können, ist der Psychologie bekannt. In seinem posthum veröffentlichen Werk Endlich: Mein Sterben schreibt Christopher Hitchens: „Ich habe keinen Körper, ich bin ein Körper.“. Zentral steht in dieser Erfahrung der Körperlichkeit für Meschonnic die Sprache. Jede Sprache und jeder Sprecher/ jede Sprecherin einer Sprache besitzt seinen/ ihren eigenen Rhythmus. Sprache und Prozesse der Subjektivierung gehen miteinander einher, bedingen sich. Gleichzeitig haftet ihr eine Historizität an, in welcher sich das Subjekt durch die Sprache verortet.
So weit so gut, doch warum teile ich euch das nun mit? Zum einen habe ich mich im Zuge meiner Beschäftigungen selbst ertappt empfunden. Ich bemerkte, dass eine Trennung zwischen Körper und Geist in meinem Denken vorherrscht, dass ich meinen Körper zurückstelle. Zum anderen dachte ich an die Schule, an die Vorstellung Schüler*innen könnten für mehrere Stunden an einem Platz sitzen und lediglich ihren Geist anstrengen. An das Lachen über Schulen, in denen am Morgen der eigene Name getanzt wird (nach einer Lektüre der Werke Meschonnics erscheint dies übrigens als äußerst sinnvoll). In einem von mir rezipierten Beitrag wird die Voraussetzung der Schrift/Schriftlichkeit für das abstrakte Denken untersucht. Hierbei wurde diskutiert, ob in vor-homerischer Zeit Schrift existiert haben muss, da Werke wie die Odyssee oder Illias nur als Schrifterzeugnisse denkbar sind. Folgend wurden Studien, die im Balkangebiet durchgeführt wurden, dargelegt, welche eine erhaltene Vortragskunst untersuchen. Es zeigte sich, dass die Memorierungsfähigkeiten der Künstler*innen deutlich über einem europäischen Durchschnitt liegen. Die Verbindung von Rhythmus und Tanz, von Geist und Körper erhöht die Merkfähigkeit, da nicht bloß abstrakt im Gedächtnis Erinnerungen und Inhalte abgerufen werden – der ganze Körper, in einer Verbindung mit dem Verstand, merkt sich etwas. Vermutlich sind ähnliche Prozesse bei Schauspieler*innen zu beobachten, welche lange Textpassagen aus Skripten auswendig lernen können. Ich vermute, dass es deutlich schwieriger wäre, wenn sie während diesem Prozess lediglich auf einem Stuhl sitzen würden.
Implikationen für das Klassenzimmer können sein, dass der Bewegung, dem lauten Sprechen, vielleicht auch dem Schauspiel und dem Tanz, eine höhere Bedeutung beigemessen werden. Zum einen ermöglicht dies den Schüler*innen sich im Unterricht als Subjekte wahrzunehmen und zum anderen geschehen Lernen und Memorieren in einem erweiterten Sinne.
Bezüge
Joseph, John E.: „Language-Body Continuity in the Linguistics-Semiology-Poetics-Traductology of Henri Meschonnic.“ In: Comparative Critical Studies 15 (2018) H.3, S. 211-329
Pajevic, Marko: „Beyond the sign. Henri Meschonnic’s poetics oft he continuum and of rhythm: Towards an anthropological theory of Language“. In: Forum for Modern Language Studies 47 (2011). H.3, S. 304-318
Pajevic, Marko/ Smith, David Nowell: „A Poetics of Society: Thinking Language with Henri Meschonnic“. In: Comparative Critical Studies 15 (2018). H.3, S. 279-310
Serge, Martin : „On Rhythm: Voice and Relation“, In: Comparative Critical Studies 15 (2018). H. 3, S. 331-347