Erfahrungsberichte einer jungen Person
Erfahrungsberichte einer jungen Person
Sehr geehrte Leserinnen, das Unterfangen, welches ich mir vorsetzte zu tun, findet im Folgenden seinen Ausdruck. Genau genommen ist es nicht mein Unterfangen gewesen, wie ich kurz schildern möchte. Die folgenden Einträge, welche ich hier zusammengetragen habe, stammen aus einzelnen losen Blättern, welche mir auf noch zu erläuterndem Wege zugekommen sind und nicht aus meiner Feder stammen. Vor einigen Wochen betrat ich das Gebäude der Universität, um einige Bücher aus der Bibliothek auszuleihen. Bevor ich diese betreten konnte, trat ich wie gewohnt auf die Schließfächer im Untergeschoß zu, um vorläufig meine Unterlagen dort abzulegen. Da mein eigentlich präferiertes Fach belegt war, suchte ich ein noch freistehendes. Etwas weiter links konnte ich eines entdecken. Als ich es öffnete fielen einige lose Blätter hervor auf den Boden. Aufgrund des Zeitmangels steckte ich sie zusammen mit meinen Sachen zurück in das Fach. Einige Stunden später griff ich wieder in Eile nach meinen Sachen, wobei ich unbemerkt die Blätter unter meine Unterlagen mischte. Erst zurück in meiner Wohnung sind sie mir wieder aufgefallen und ich begann sie durchzulesen. Offensichtlich bilden sie die Dokumentation eines Unterrichtspraktikums einer studierenden Person. Da kein Name auf die losen Blätter notiert wurde, war es mir nicht möglich den Autor oder die Autorin ausfindig zu machen. Der Zustand, in dem sich die Papiere befanden, verriet zudem, dass sie von dem Verfasser oder der Verfasserin nicht mit sonderlicher Sorgfalt und Fürsorge behandelt wurden. Nun um es kurz zu halten, ich beschloss ihren Inhalt euch werten Leserinnen zugänglich zu machen. Ich habe den Inhalt nicht abgeändert und lege lediglich eine Abschrift vor.
Tagebuch zum Schulpraktikum
Erster Tag
Nächstes Mal fahre ich mit dem Bus. Eine halbe Stunde und dann noch bei Regen auf dem Rad, nein, nächstes Mal fahre ich mit dem Bus. Am Ende der Straße, dort wo die Bäume aufhören, steht es, das Gebäude, ein Schulgebäude. Ich frage mich ob eine Vorschrift, sozusagen eine Regel existiert, dass Bauwerke, welcher dieser Institution zuzuordnen sind immer von außerordentlicher Hässlichkeit zu sein haben. Im „Hof“ wird alles betoniert. Wer braucht denn auch Blumen oder irgendetwas, das eine die visuelle Wahrnehmung ansprechende Farbe besäße, etwas das auf das Leben verweisen könnte, denn hier wird gelernt – ich überspitze. Nahtlos geht der „Hof“ über in das Gebäude. Farblos und schachtelartig erhebt es sich trist und nackt aus dem unfruchtbaren Boden. Ob sich wohl hier der philosophische Satz des „Außen und Innen“ bewahrheiten wird? Langsam und mit einer gewissen, wohl erworbenen, Scheu bewege ich mich auf das Bauwerk zu. Vor dem Haupteingang warten bereits meine Kollegen und Kolleginnen, welche wie ich das Unterrichtspraktikum an dieser Schule absolvieren. Wie gewöhnlich positioniere ich mich etwas abseits und verliere mich schnell in Gedanken – das Außen und Innen. Eine etwas krächzende und laute Stimme hallt aus den Gängen und reißt mich aus selbigen. Die Betreuungslehrperson. Sie wirkt in Eile und vollführt eine winkende Geste, welche uns wohl auffordern sollte, ihr zu folgen. Während des Gehens fallen die ersten Sätze „Ich sage es gleich, unsere Kinder sind ungemein dumm. Ich komme gerade aus einer Stunde, ihr würdet es nicht glauben. Hat jemand ein Feuer? Raucht hier jemand?“. Aus dem Hintergrund trete ich vor – die Möglichkeit der Situation ergreifend – und überreiche mein Feuerzeug, während ich mir selbst eine Zigarette anstecke – ein guter Anfang. Gemeinsam stehen wir unter einem Vordach hinter dem Schulgebäude. „Tut mir leid, aber ich muss gleich in eine Besprechung mit der Direktorin, davor brauche ich immer eine Zigarette. Also wie ich schon sagte, sind unsere Schüler extrem schwach. Ihr studiert Deutsch? Also besonders in Deutsch. 90% haben einen Migrationshintergrund und viele sprechen nur sehr gebrochen. Früher war das besser, aber heute…“ – klingt outriert und klischeehaft, aber das waren die ersten Sätze.
Ähnlich ansprechend verlief die erste Stunde der Hospitation. Wenigstens verstehe ich jetzt die klangliche Nähe zwischen Hospitieren und Hospiz, obgleich gesagt sei, dass man bei zweiterem wenigstens versucht den Sterbeprozess positiv zu umstalten. Ein geistiger Sterbeprozess. Wahrscheinlich wurden die Fenster aus der Angst nicht geöffnet, die Geister der Kinder könnten aus demselben entfliehen. Um ehrlich zu sein könnte nicht einmal ich wiedergeben, was denn stofflich im Unterricht durchgenommen wurde, da dies in dem Geschrei (seitens der Lehrpersonen) und den Zurechtweisungen untergegangen ist.
Wieder eine halbe Stunde mit dem Rad – nächstes Mal fahre ich mit dem Bus.
Zweiter Tag
Wieder hospitieren. Nach der Stunde gehe ich durch den Hinterausgang – jetzt brauche ich eine Zigarette. Im Eck des kleinen Vordaches sitzt ein auf die Vierzig zugehender Herr mit einer Bierdose, die er wohl gerade brauchte. Er stellt sich mir als Hausmeister der Schule vor und wir unterhalten uns recht angeregt. Wieder hospitieren – wenig Neues. Geschrei, Zurechtweisungen – wegen Zettel die nicht ordnungsgemäß eingeklebt wurden etc. Was hier zu vermitteln versucht wird hat sich mir noch immer nicht erschlossen.
Dritter Tag
Heute habe ich selbst unterrichtet – Konjugation von starken und schwachen Verben. Erste Erkenntnis – unerwarteter Weise hat mir das Unterrichten an sich Freude bereitet – es war meine erste abgehaltene Stunde. Von den vorbereiteten vier Arbeitsblättern habe ich nur eines durchbekommen. Das Geschrei der Aufsichtslehrperson hat mich etwas gestört, aber endlich konnte ich den Kindern auch ins Gesicht und nicht nur auf den Rücken sehen. A. in der ersten Reihe hat sich besonders intensiv beteiligt, im Anschluss wurde mir gesagt, dass sie nach dem AHS-Standard beurteilt wird, als einzige in der Klasse. Aufgefallen ist mir L., welcher mittig in der Klasse seinen Platz hat – obgleich ich bezweifle, dass der Ausdruck hier angebracht ist. Er starrte auf seinen Tisch, das Arbeitsblatt mit dem erteilten Auftrag vor ihm. Nach einigen Minuten, in welchen ich beobachtete, dass er nicht mit dem Ausfüllen begann, näherte ich mich seinem Tisch und fragte, ob er Probleme mit der Aufgabenstellung hätte. L. seufzt, nimmt langsam einen Bleistift zur Hand und schreibt ein Wort auf die erste Zeile. Zu mehr konnte ich ihn nicht überreden und ließ lieber ab, bevor die Aufsichtsperson etwas davon mitbekam, die Folgen wollte ich ihm ersparen. Generell haben die Schüler*innen einen sehr direkten Zugang zur Kommunikation. Gedanken werden meist wahllos und unreflektiert geäußert – worin ich Potential sehe.
Vierter Tag
Heute habe ich die Betreuungslehrperson gefragt, welche Sprachen denn so in der Klasse gesprochen werden. Ich hatte bemerkt, dass einige Schüler*innen Probleme hatten die Aufgabestellungen zu verstehen, hörte jedoch das manche von ihnen Französisch sprachen – eine Sprache, die ich zumindest gut genug beherrsche, um Angaben übersetzen zu können. Mir konnte keine Auskunft gegeben werden, außer einer weiteren Versicherung, dass zumindest Deutsch nicht von ihnen gesprochen wird.
Fünfter Tag
Meine Begeisterung für das Praktikum kann wohl der Veränderung innerhalb der Länge meiner Beiträge entnommen werden – sie schwindet. Eine gewisse Lethargie beginnt sich auszubreiten – eventuell eine Angst vor meiner zukünftigen beruflichen Betätigung – Angst vor dem, wozu ich in diesem System werden könnte, aber auch ein Eifer – dass kann es ja nicht sein! Oder?
Heute habe ich bei einer studierenden Person hospitiert und konnte eine Beobachtung machen. Die Person war sehr unsicher. Man bemerkte, dass sie sich unwohl in ihrer Position vor der Klasse fühlte – eine Angst. Was ich beobachten konnte war ein Wechsel, eine Veränderung, die eintrat. Die Person fiel in ihrer Haltlosigkeit in bekannte erlernte Muster zurück. Sie wurde übertrieben kritisch und hart zu den Schüler*innen und hat sie eben in selber weise zurechtgewiesen, wie wir das während unserer ersten Hospitationen von Lehrpersonen vernommen haben. Und wirklich sie schaffte es, dass die Klasse völlig verstummte und alle auf ihre Tische starrten – aber zu welchem Preis? Hier konnte ich beobachten, wie jemand zu jemandem wird, der man vermutlich nicht sein wollte, der man aber wurde, aus Angst und Unsicherheit – ein Fallen in das Bekannte – ein Halt, aber ein vager.
Sechster Tag
Ich stehe wieder am Hinterausgang unter dem kleinen Dach – eine Zigarette – vermutlich habe ich sie gebraucht. Der Platz gefällt mir. Ruhig prasselt ein sanfter Regen auf die Betonklötze – was man heute wohl unter Bänken versteht – herab. Ich mag diesen Ort. Schon immer hatte ich eine Neigung zum offensichtlich Kranken und Schiefen. Eventuell liegt dies in meiner psychischen Konstitution begründet, da ich mich selbst meist als „krank“ und „schief“ wahrnehme. Ich sehe hierin Möglichkeiten, Herausforderungen. Mein letztes Praktikum habe ich in einer Schule mit „gutem Ruf“ absolviert. Die Qualität des Unterrichts kann natürlich nicht mit dieser Situation verglichen werden, aber ich fühle mich freier hier – fühle mehr Möglichkeiten, für alle Beteiligten. Und mich zurückerinnernd konnte ich mich des Eindrucks nicht verwehren, dass es auch in der „guten Schule“ kränkelte, jedoch an einer anderen, weniger offensichtlichen Stelle, die ich wohl bis heute nicht genau diagnostizieren kann. Ja, ich mag es hier.