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(Annemarie Schaffer)

Krassimir Stojanov stellt in einem Kapitel des 2011 erschienenen Buches Bildungsgerechtigkeit die Frage, ob Schule (anhand von Leistung) selektieren darf und soll. Eine Frage, die vor allem im Deutschland – worauf sich Stojanov hauptsächlich bezieht – in Anbetracht des numerus clausus an den Universitäten gestellt werden muss. Zwar wird das Problem der beschränkten Studienplätze in Österreich anders gehandhabt und es wird nicht durch den Notendurchschnitt des (gymnasialen) Abschlusszeugnisses, sondern durch Aufnahmeprüfungen entschieden, wer einen der begehrten Plätze z.B. im Medizinstudium bekommt, aber dennoch findet auch in Österreich z.T. schon sehr früh eine Selektion bzw. eine Verteilung der Schüler*inne statt, die sich weder nach den Begabungen noch nach den Bedürfnissen der Betroffenen richtet:

Zum einen entscheiden – was Stojanov in seinem Kapitel überzeugend als nicht angemessen darlegt – die Noten im Zeugnis der vierten Klasse Volksschule darüber, ob ein Kind für ein Gymnasium geeignet ist oder ob es doch „nur“ in die Mittelschule (früher Hauptschule) gehen darf. Zum anderen spielt auch der Wohnort der Betroffenen leider keine kleine Rolle, bei der Wahl des Schulbesuchs nach der Volksschule:

Ich bin in einem relativ kleinen Dorf nur ein paar Kilometer entfernt von der nächsten Landeshauptstadt aufgewachsen. Wir haben eine eigene Volksschule, aber für den weiteren Bildungsweg müssen die Fühler über die Ortsgrenzen hinaus ausgestreckt werden. In zwei der Nachbargemeinden gibt je eine Mittelschule, das nächste (von vielen) österreichische Gymnasium ist auch nicht viel weiter entfernt und über der nahen bayrischen Grenze gibt es auch noch eines. Die Wahl scheint also frei zu sein. So einfach ist es aber leider nicht. Als ich in der vierten Klasse Volksschule war, machten wir mit unserer Klassenlehrerin Ausflüge in die beiden oben erwähnten (damals noch) Hauptschulen. Sich über die vielen, mit dem Bus genauso gut erreichbaren Gymnasien zu informieren, lag in der Eigenverantwortung der Schüler*innen bzw. deren Eltern. Für Kinder, deren Eltern – aus welchen Gründen auch immer – keinen gesonderten Wert auf den Besuch eines Gymnasiums legten, stand ein Großteil ihrer theoretischen Möglichkeiten nicht einmal zur Debatte.

Grundsätzlich muss ein Besuch der Haupt- bzw. Mittelschule ja noch nicht heißen, dass der Bildungsweg nach der Sekundarstufe I abgeschlossen sein muss, da ja theoretisch der Übertritt in die Oberstufe eines Gymnasiums auch von dort aus möglich ist. Allerdings hat kaum jemand meiner ehemaligen Volksschulkolleg*innen, der*die nicht von vorneherein ein Gymnasium besucht hat, diesen Weg beschritten.

Ich selbst hatte das Glück, dass meine Eltern – in Kenntnis meiner Interessen und Begabungen – mich dazu ermutigten, die Aufnahmeprüfung in ein Gymnasium mit musischem Schwerpunkt zu versuchen. Anders als bei anderen Gymnasien spielten dort die Noten im Volksschulzeugnis für die Aufnahme eine eher untergeordnete Rolle. Eine schlechtere Note als ein ‚Befriedigend‘ sollte zwar dennoch nicht aufscheinen, aber wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit in anderen vergleichbaren Schulen ein ‚Gut‘ zu viel ein Ausschlusskriterium sein konnte, ist das doch bemerkenswert. Die Aufnahmeprüfung als solche war durchaus fordernd. Sie dauerte mehrere Tage und wir wurden auf unsere Eignung – nicht auf erlerntes Wissen! –  in den vier Säulen, auf denen die Schule aufbaute (Musik, Tanz, bildende Kunst, kreatives Schreiben), getestet. Allerdings passierte das auf eine durchwegs wertschätzende, freundliche und für uns auch lustige Weise, dass sogar ich, die ich ein recht schüchternes und nervöses Kind war, mit der Zeit die durch die Prüfungssituation erzeugte Anspannung vergaß.     

Die Form der Selektion, die diese Aufnahmeprüfung darstellt, war für mich auch schon in diesem jungen Alter von großem Vorteil. Ich konnte dadurch acht Jahre meiner Schulzeit in einem Umfeld verbringen, das mich in meinen Interessen und Begabungen und damit auch in meiner Persönlichkeit und meinem Selbstbewusstsein bestärkte und weiterbildete – und das bei Weitem nicht nur in den musischen Hauptfächern, sondern auch in all den „normalen“ Fächern, die eben zu einer gymnasialen Bildung dazu gehören. Dass dieses Konzept durchaus ein erfolgreiches ist, zeigt nicht nur die vergleichsweise geringe Drop-Out-Quote (in den acht Jahren, die ich an dieser Schule war, kann ich mich nicht erinnern, dass jemals zwei Klassen aufgrund einer zu geringen Anzahl an Schüler*innen zusammengelegt werden mussten), sondern auch die große Bandbreite an Karrierewegen, die allein die Kolleg*innen aus meinem Maturajahrgang eingeschlagen haben. Klar, einige blieben ihrem musischen Schwerpunkt treu und wurden Musiker*in, Schriftsteller*in, Tänzer*in oder Schauspieler*in. Andere aber schlugen ihren ganz eigenen Weg ein und gingen in die Medizin, in die Biochemie, ins Lehramt, wurden Physiotherapeut*in oder Dolmetscher*in. Das zeigt mir, dass diese Selektion nach natürlichen Begabungen (und nicht nach Leistung) zu einer freien Entwicklung der Persönlichkeit und damit zur Fähigkeit, den für sich passenden Weg zu finden, führen kann.

Natürlich besteht auch hier weiter das oben schon angeschnittene Problem der lokalen/familiären Herkunft. Kindern muss die Chance gegeben werden, die Möglichkeiten, aus denen sie wählen können, zu kennen. Da diese Chance nicht allen von Elternseite her gegeben werden kann, läge es zunächst an den Volksschulen und am Ende der Sekundarstufe I an den Mittelschulen und auch an den Gymnasien, umfassend zu informieren. Dabei wäre es schön, wenn den Schulen bzw. Eltern und Schüler*innen Hilfsmittel vergleichbar mit denen zur Berufswahl (online-Interessentests, Berufsinformationsmessen u.ä.)  an die Hand gegeben würden, die den Blick auf die mögliche schulische Laufbahn einerseits weiten und andererseits schärfen.

Der Forderung Stojanovs, dass Selektion keinesfalls aufgrund von Schulnoten passieren und der Fokus unabhängig von irgendwelchen wirtschaftlichen Faktoren vielmehr auf die Interessen, Begabungen und Bedürfnisse der Schülerinnen gesetzt werden soll, stimme ich also aufgrund meiner eigenen Erfahrung völlig zu. Seine Ansicht, dass Selektion frühestens bei 14-jährigen vorgenommen werden sollte, kann ich allerdings nicht teilen. Auch 10-jährige haben schon Interessen und Begabungen, die in einem darauf ausgelegten Umfeld gefördert werden sollten. Die Problematik, die auch Stojanov anspricht, dass Schülerinnen in diesem Altern nicht bzw. nur sehr eingeschränkt entscheidungsfähig sind, darf allerdings auch nicht ignoriert werden. Deswegen halte ich es für wichtig, dass den Schüler*innen sowohl nach der Volksschule als auch nach der Sekundarstufe I die Chance geboten wird, eine informierte Wahl zu treffen. Denn der Weg, den man mit zehn Jahren einschlägt, muss mit 14 Jahren (oder später) nicht derselbe sein und bleiben.

Abschließend möchte ich hier noch darauf hinweisen, dass beim Zusammenhang von Selektion und Schule eine Anpassung der Perspektive nicht schaden würde: Schüler*innen sollten nicht nur als Objekte – d.h. die Selektierten – des Selektionsprozesses angesehen und behandelt werden, sondern auch (zumindest in gleichem Maße) als Subjekte – also Selektierende, die den für sich am besten geeigneten (Schul-)Weg auswählen.