Lernen im „Verblendungszusammenhang“
„Warum muss ich das lernen? Das bringt mir doch nichts!“ Ein Satz, welcher sich in Schulen und nicht nur dort, wohl des Öfteren wahrnehmen lässt. Lernen muss mir etwas bringen, die Lehrinhalte müssen so beschaffen sein, dass sie praktisch auch von Nutzen sein können und einen Gewinn für mich darstellen. Der kritisch geschulte Geist spitzt bei diesen Worten seine zu sich selbst gekommenen Ohren und denkt an eine in diesem Forum schon häufig diagnostizierte Krankheit unserer Kultur. Bereits der junge Hölderlin lässt seinen Hyperion schreiben: „Ach! wär‘ ich nie in eure Schulen gegangen. Die Wissenschaft, der ich in den Schacht hinunter folgte, von der ich, jugendlich töricht, die Bestätigung meiner reinen Freude erwartete, die hat mir alles verdorben.“ (Hyperion). In ähnlicher Manier schreiben Adorno und Horkheimer: „Die Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen überträgt sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten Arbeitsweisen auf die Erfahrungswelt der Völker und ähnelt sie tendenziell wieder der der Lurche an.“ (Dialektik der Aufklärung). Nietzsche diagnostiziert und antizipiert:
„Man sieht jetzt mehrfach die Cultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handeltreiben ebenso sehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die älteren Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht Alles zu taxiren, ohne es zu machen, und zwar zu taxiren nach dem Bedürfnisse der Consumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse; „wer und wie Viele consumiren diess?“ ist seine Frage der Fragen. Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinctiv und immerwährend an: auf Alles, und so auch auf die Hervorbringung der Künste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und Parteien, der ganzen Zeitalter; er fragt bei Allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, um für sich den Werth einer Sache festzusetzen. Diess zum Charakter einer ganzen Cultur gemacht, bis in’s Unbegränzte und Feinste durchdacht und allem Wollen und Können aufgeformt: das ist es, worauf ihr Menschen des nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet: […]“ (Morgenröte)
Der Bildungsbegriff verkommt, wie die anfangs gestellte Frage nahelegt, zu einer bloß auf ihre materiellen Werte reduzierten Hülle. Ein Bildungsprozess soll mich nicht verändern, soll nicht auf mich einwirken – ich benötige Wissen und Fähigkeiten, die von materiellem Nutzen sind. Überspitzt formuliert könnte entgegnet werden, dass mein Wissen und meine Fähigkeiten zu einem Teil mein Selbst konstituieren und dieses mit meinem Verständnis des Bildungsbegriffes korrelierend ebenso sein Maß im Nutzen findet. Adornos Lurch kann eventuell ein Rind beigestellt werden, dass sich selbst, ohne es zu wissen, unter ein Joch stellt und aus den umgebenden Feldern ein Brachland pflügt.
Bildung impliziert ein schaffendes Moment. Etwas wird gebildet. Das Etwas ist ein Jemand – eine Person. Eine Person bildet sich, formt sich, verfeinert die Züge – ein Kunstwerk. Das Prinzip des L’art pour l’art einmal anders gedacht. Kunst, die die Kunst will – der Mensch, der sich selbst will.
Für Studierende des Lehramts liegt der Nutzen wohl in der Aussicht auf einen zukünftigen Beruf. Ich studiere – weil ich Lehrer*in werden möchte. Die Inhalte des Studiums sind in mich eingegangen, jetzt können sie wieder aus mir hervorgehen. Doch ist die Schule auch ein Ort der Persönlichkeitsentwicklung, der Gestaltung. Der Lehrperson kommt in diesem Zusammenhang eine größere Verantwortung zu, als lediglich einen bestimmten Wissens-Kanon zu vermitteln. Ein Ort der Bildung, der Wechselwirkungen zwischen Menschen, der Gestaltung, welcher über die Inhalte hinausgeht.