Nicht zuletzt aktuellen Entwicklungen zufolge lässt sich im Bildungs- und insbesondere im Schulkontext die Tendenz ablesen, dass die Geringschätzung kreativer und musikalischer Fächer nicht abgebaut wird, sondern im Gegenteil, mehr und mehr ins Abseits rückt. Abgesehen von der Handhabung einiger weniger Schwerpunktschulen werden die künstlerisch-kreativen Fächer spätestens ab der Oberstufe höchstens als Wahlfach (entweder Musik oder Bildnerische Erziehung) angeboten. Der Faktor für die Werteinheit einer Stunde ist unvergleichlich niedrig gegenüber anderen und steht das Ausmalen der Klasse am Plan oder muss eine versäumte Deutschstunde nachgeholt werden, soll der BE-Unterricht herhalten. „Das ist eh wie Freistunde“ — die das entbehrliche Pufferfach, so muss leidlicher Weise wohl zusammengefasst werden, was die breite Mehrheit von diesen Fächern hält. Hier muss dringend ein Umdenken passieren. Seit den 1990er Jahren werden in den Bildungswisssenschaften die 21st century skills propagiert. Bei Beschau der Liste zeigt sich, wie wichtig es besonders in der pandemischen und postpandemischen Ära wäre, dem System und den darin aktiv gestaltenden Akteur*innen von der unsäglichen Relevanz der künstlerischen Unterrichtsfächer begreiflich zu machen.
Um nur einige wichtige Schlagworte aus der Liste zu nennen seien Kreativität, kritisches Denken, kollaboratives Arbeiten, Kommunikation, Flexibilität, visual und information literacy oder Medienkompetenz erwähnt.1 Wo wenn nicht in den Künsten ist es möglich, derartige Fähigkeiten zu vermitteln?
Abgesehen von der Tatsache, ist es dringend an der Zeit, grundsätzlich die allgegenwärtigen Vermittlungsmethoden in der Vermittlung im universitären Lehramtstudium und in weiterer Folge in der schulischen Unterrichtspraxis disruptiv an die Gegenwart anzupassen. Das beginnt bei der Klassenraumstruktur. Späht man an einem üblichen Montag morgen durch das Fenster in einen „Durchschnitts-Klassenraum“ der heutigen Zeit und stellt diesem Eindruck ein Bild einer Klasse von vor 200 Jahren gegenüber, muss man erschrocken feststellen, dass sich der Modus, in dem Unterricht hauptsächlich stattfindet, im Vergleich zu jenem von damals nicht entschieden unterscheidet. Das ist eine Tatsache, die jedem und jeder, die einen Gedanken daran verliert, zu denken geben sollte, besonders uns angehenden Lehrenden. Tische, die in Reih und Glied nebeneinanderstehen, vorne das Lehrerpult – eine Gemeinschaft, deren Mitglieder zu demokratisch denkenden, selbstbestimmten Menschen erzogen werden wollen, sollte anders aussehen. Um die reaktionären Situation zu verdeutlichen sei hier mit einem Zitat Erich Kästners die Entwicklung der Telefonie in den letzten 100 Jahren erwähnt. „„Ein Herr, der vor ihnen auf dem Trottoir langfuhr, trat plötzlich aufs Pflaster, zog einen Telefonhörer aus der Manteltasche, sprach eine Nummer hinein und rief: ‚Gertrud, hör mal, ich komme heute eine Stunde später zum Mittagessen. Ich will vorher noch ins Laboratorium. Wiedersehen, Schatz!‘ Dann steckte er sein Taschentelefon wieder weg, trat aufs laufende Band, las in einem Buch und fuhr seiner Wege.“ — was heute klingt wie eine Erzählung in der man auf die Pointe vergeblich wartet, war 1931 eine unvorstellbare literarische Utopie. Heute schicken wir unseren Corona-Selbsttest in der App zum Verifizieren und überweisen noch schnell das Geld für die letzte Amazon-Bestellung — das geht jetzt noch einfacher, wegen der Face-Recognition—, bevor wir der besten Freundin snappen, dass wir uns mal wieder 10 Minuten verspäten, aber sie solle doch in dem einen neuen Café, indem wir uns treffen, weil das eine Influencerin über Insta zuletzt promotet hat, schonmal einen pink Latte mitbestellen.
Long story short: Das Ökosystem Schule ist in seinen Grundzügen immer noch im Schneckentempo unterwegs und strukturell veraltert, besonders was zeitgerechte Wissens- und Kompetenzvermittlung angeht. Um unseren Schüler*innen jenes Rüstzeug zu vermitteln, das nicht nur in der bildungswissenschaftlichen Kompetenzdebatte gefordert wird, sondern auch vor dem Hintergrund emergierender Datenmassen, Technologien und Künstlichen Intelligenzen virulent für die Herausbildung fähiger Generationen ist, müssen die musischen Fächer mehr Beachtung und Wertschätzung erfahren. In der Aneignung künstlerischer und kreativer Strategien lassen sich genau jene Qualifikationen erproben und aneignen, die zusätzlich zum allgemeinbildenden Wissenskanon wichtig für eine verantwortungsvolle, selbstbestimmte Teilhabe am Leben der Gegenwart sind.
1 https://www.aeseducation.com/blog/what-are-21st-century-skills, abgerufen am 05.06.2021