Artikel-Schlagworte: „Wirtschaft“

Paradoxon

Wir werden lange nichts merken und dann aufwachen

Reform des Bundesheeres?Populistisch vergurkt. Reform des Steuersystems? Populistisch auf die Debatte „Die Reichen sollen zahlen“ reduziert. Reform des Gesundheitswesens? Beton von den Bundesländern. Reform des überaus kostspieligen und unter dem Gesichtspunkt der „Verteilungsgerechtigkeit“ überaus ungerechten (Früh-)Pensionssystems? Keine Chance gegen Gewerkschafterbeton. Reform des Schulsystems? keine Chance gegen Lehrergewerkschaftsbeton. Reform der Hochschulen? Sterile Debatte über Studiengebühren und Zulassungsbeschränkungen, keine strukturellen Verbesserungen.

Ein Konzept für die Integration der Bevölkerung mit Migrationshintergrund (in Wien 44 Prozent)? Statt dessen hilfloser Fekterismus gegen Stracheismus.

Gegenschuss: Wieso, wozu das alles, es geht uns eh ziemlich gut, was reden S’ denn allerweil über Probleme, Reformen und Konzepte? Es lauft doch eh!

In der Tat, es läuft nicht so schlecht. Das ist das österreichische Paradoxon: Bei allen strukturellen Defiziten, bei allem sorgenvollen Kopfschütteln vieler Kenner der Situation – die wirtschaftliche Lage Österreichs und auch der meisten Österreicher ist nicht schlecht. So wie bei uns gemurkst wird (vor allem von der Politik), müsste es uns viel schlechter gehen. Mögliche Erklärungen: Erstens lebt Österreich von seinen vielen, vielen Klein- und Mittelbetrieben, die mit technischem Tüftlertum und schlauer Erkenntnis von Marktnischen einen hohen Mehrwert im internationalen Wettbewerb erwirtschaften. Die ziehen den ganzen geschützten Sektor mit. Zweitens hat unsere Wirtschaft vor zwanzig Jahren die ungeheure Chance der Wende im ehemals kommunistischen Ost-und Südosteuropa genutzt. Davon lebt unser ganzer Finanzsektor, der in Österreich keine ausreichenden Gewinne mehr machen kann.

Drittens hat Österreichs Position als westlich strukturierter Staat, der aber zu keinem Militärblock gehört, viele Zugänge geschaffen. Das hat uns in der arabischen Welt, und neuerdings im zentralasiatischen Raum und an der Schwarzmeerküste, viele Chancen eröffnet. Überdies hat es uns nie gestört, mit despotischen Gerontokleptokraten Geschäfte zu machen. Jetzt hat die Regierung in Davos sogar einen Lunch für ein paar bedenkliche Herrschaften gegeben. Viertens müssen wir uns aber darüber im Klaren sein (sind es aber nicht, was den Großteil der Bevölkerung betrifft), dass wir inzwischen den Wohlstand großteils auf Schulden finanzieren. Österreich hat sich durch die Erfolge der Vergangenheit ein gutes Standing „auf den Märkten“ erarbeitet. Wir kriegen noch genug Kredit, um z.B. unser unhaltbares System der Frühpensionen zu finanzieren. Aber die ersten Experten warnen schon: Triple-A ist nicht mehr selbstverständlich.

Wir können noch zehn Jahre so weitermachen. Wir können noch weiter Schulabgänger produzieren, die nicht lesen, schreiben und rechnen können. Wir können dem stillen Abgang von vielen einfacheren Produktionen zusehen. Wir werden lange nichts merken und dann aufwachen. (Hans Rauscher, DER STANDARD, Printausgabe, 29.1.2011)

Zitat verfügbar unter: http://derstandard.at/1295571133153/Es-lauft-doch-eh-Das-oesterreichische-Paradoxon [Datum des Zugriffs: 19.01.2011]